Tagesspiegel, 6.5.1996



Die Suche nach einer neuen Streitkultur

Thomas Krüger diskutiert online über die Herabsetzung des Wahlalters

VON PATRICK CONLEY

"Hier hat irgendeiner was gefragt ..." Die Online-Diskussion mit dem Berliner Bundestagsabgeordneten Thomas Krüger, die am letzten Freitag stattfand, hat begonnen. Thema ist die Herabsetzung des Wahlalters. Thomas Krüger sitzt in den Räumen der Freien Universität in Dahlem und nimmt Fragen entgegen, die er von seinem Internet-fähigen PC ablesen kann. Verfolgt wird die Online-Diskussion unter anderem in Prenzlauer Berg, in der "Medienwerkstatt für Nicht-Erwachsene". Dort hat sich um Mike Weimann, einen groß gewachsenen 42jährigen mit Vollbart und kleiner, runder Brille eine Gruppe Jugendlicher gescharrt. Mit skeptischen Blicken verfolgen sie die auf dem Bildschirm aufleuchtenden Sätze.

Die Diskussion, die die Jugendlichen verfolgen, findet öffentlich statt. Beteiligen kann sich jeder, der einen Computer mit Internet-Anschluß hat. Zwei Studenten vom Fachbereich Politische Wissenschaft an der FU arbeiten seit September letzten Jahres an dem Projekt, Abgeordnete des Bundestages an das neue Medium heranzuführen. "Vorbild war das Repräsentantenhaus in den USA", erklärt Thomas Sümmerer, einer der beiden Initiatoren: "Der mündige Bürger setzt den informierten Bürger voraus". Zu dem Projekt gehören regelmäßig stattfindende Diskussionen zwischen Abgeordneten und Internet-Usern. Diesmal steht Thomas Krüger von der SPD Rede und Antwort. Krüger ist Mitglied in der Enquete-Kommission des Bundestages "Zukunft der Medien" und bezeichnet sich als Anhänger der neuen Kommunikationsmöglichkeiten: "Alle Rituale fallen weg und man diskutiert auf eine sehr unmittelbare Weise".

Mit dabei in Prenzlauer Berg ist Benjamin Kiesewetter, 16 Jahre alt und von allen Benni genannt, der im August letzten Jahres zusammen mit einem Freund eine Verfassungsbeschwerde wegen Vorenthaltung des Wahlrechts eingereicht hat. In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", und zum Volk, meint Benni, gehören doch wohl auch Jugendliche. Schon im Herbst 1992 hat er sich mit gleichgesinnten Schülern zu der Gruppe KinderRÄchTsZÄnker zusammengeschlossen. Mittlerweile werden sie als ernstzunehmende Gesprächspartner behandelt: Vor zwei Wochen wurden sie von der Vizepräsidentin des Bundestages, Antje Vollmer, nach Bonn eingeladen.

Trotzdem halten sich die KinderRÄchTsZÄnker in der Diskussion mit Thomas Krüger vorerst zurück, und versuchen aus dem auf dem Bildschirm aufflackernden Datenwust schlau zu werden. Benni murmelt inzwischen : "Der Krüger ist nicht schlecht ..." und liest dann laut vor: Jemand mit dem Pseudonym Cougar schreibt: "Thomas: Mal zum Thema: Es soll hier ja zum Wahlrecht für Jugendliche gehen. Hältst du 16jährige für reif genug, um zu wählen?". Thomas Krüger antwortet: "Cougar: Ich bin überzeugt, auch 40jährige haben zuweilen ein Rad ab." Jetzt schalten sich auch die KinderRÄchTsZÄnker in die Diskussion ein. Benni geht die Forderung nach Herabsetzung des Wahlalters nicht weit genug. "Es gibt eigentlich nur eine gerechte Lösung: Die Abschaffung der Altersgrenze beim Wählen."

Die Sätze auf dem Bildschirm hüpfen schneller. Der SPD-Abgeordnete unterstützt die Argumente der Schüler, andere Online-Diskutanten halten dagegen. Als die Jugendlichen in die Tasten hauen: "Die Schulpflicht bricht genauso das Grundgesetz wie die Einschränkung des Wahlalters", muß Thomas Krüger passen: "Ihr Radikalinskis, mit diesen Argumenten macht ihr es euren Gegnern leicht." Die KinderRÄchTsZÄnker lassen sich davon nicht beeindrucken. Benni kontert: "Wir glauben, daß das Thema so komplex ist, daß ein kurzer Schlagabtausch nicht ausreicht." Seine Empfehlung: Die vollständige Argumentation im Internet nachlesen unter: http://www.schlund.de/privat/kraetzae [aktuelle Adresse]. 


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